Das Modell von Poitiers

Lebt Gott in Frankreich?

Pfarrvikar Peter Adolf über seine dreiwöchige Studienzeit in Poitiers.

Dieses Erzbistum in Südwestfrankreich geht seit Jahren einen reformfreudigen
und ermutigenden Weg der Gemeindebildung von unten.

Pastorale Perspektiven

Leben wie Gott in Frankreich – das drückt Lebenslust und Lebensfreude aus. Ja, die Franzosen wissen zu leben! Aber lebt denn Gott wirklich in Frankreich? Wenn ja – wie? Heute, in einer sehr „weltlichen“ Kultur, in einem bunten Gemisch von Menschen aus aller Herren Länder, in einem Land mit reicher kultureller Vergangenheit und mit starken sozialen Gegensätzen zwischen geballter Armut in den Hochhäusern an den Stadträndern von Paris, Straßburg und Marseille und
immensem Reichtum an der Côte d’Azur, in Schlössern und Nobelvierteln? Lebt Gott noch in einer Kirche, die seit 1905 strikt vom Staat getrennt ist, keine staatlich eingetriebene Kirchensteuer kennt, deren Priester, Bischöfe und Angestellte mit einem Einkommen knapp über dem Existenzminimum
auskommen müssen? Lebt er noch in einem Land, dessen Verfassung anders als das deutsche Grundgesetz seinen Namen nicht einmal kennt? Oder ist er längst tot, begraben in vielen wunderschönen alten Kirchen, die an frühere, bessere
Zeiten erinnern? Ich wollte es wissen! Warum?

Aus zwei Gründen! Erstens: Ich habe ihn vor 40 Jahren in Paris kennengelernt. Wirklich! Als Student der Theologie, 18 Monate im so genannten „Freisemester“, einer Zwischenzeit für Priesteramtskandidaten fernab des Bonner Theologenkonvikts.

Ich habe ihn als sehr lebendig kennengelernt: in der Hochschulgemeinde nahe der Sorbonne, bei den begeisternden Studentenwallfahrten nach Chartres, von wo
wir gläubige, suchende und ungläubige Kommilitonen vor Freude im Bahnhof Montparnasse tanzend und singend zurückkehrten. Lebendig auch in wachen Kirchengemeinden mit ihren unvergleichlichen Gottesdiensten, bei engagierten
Arbeiterpriestern und demonstrierenden Studenten der 68er Generation und bei vielen einfachen Menschen mit einer ungekünstelten, tiefen Christusverbundenheit, die mich manchmal beschämte. Hat Gott in Frankreich die letzten 40 Jahre überlebt? Und wenn ja, wie und wo?

Nicht nur Nostalgie trieb mich wieder nach Frankreich. Der zweite Grund war meine Unzufriedenheit mit dem Zustand der katholischen Kirche in Deutschland, in unserem Erzbistum. Reformstau, mehr oder weniger offene Abkehr von den
epochalen Einsichten des II. Vatikanischen Konzils, jahrelange, zermürbende Strukturdebatten ohne inhaltliche Perspektiven, schließlich der Missbrauchsskandal. Hat diese Kirche noch eine Zukunft? Oder wird sie bis zur Bedeutungslosigkeit ausbluten oder dahinsiechen?

Mit diesen Fragen in Kopf und Bauch machte ich mich Ende Mai dieses Jahres auf den Weg in die Erzdiözese Poitiers im Südwesten Frankreichs, aus der sehr hoffnungsvolle Signale bis an den Rhein drangen. Vor 30 Jahren hatte hier ein mutiger Erzbischof einen nachhaltigen Weg der Reform eingeschlagen,
von seinem Nachfolger, Erzbischof Albert Rouet, bis heute konsequent weitergeführt und im Leben der Erzdiözese verankert. In der ländlichen Kleinstadt Melle fand ich freundliche Aufnahme im dortigen Pfarrhaus.

Mit Jacques, dem 64-jährigen leitenden Pfarrer eines Dekanates und zweier Pfarrverbände, und André, 82-jähriger Priester im (Un-)Ruhestand bildeten wir für drei Wochen eine muntere Gemeinschaft. Vorher waren uns noch nie begegnet.
Nachdem mein Angebot, den Abwasch zu übernehmen – Jacques bereitete die Mahlzeiten – freudig angenommen war und sich die Verständigung als problemlos erwies, war das Eis schnell gebrochen. Es wurde viel gelacht bei den Mahlzeiten mittags und am Abend. Sie waren schier unerschöpfliche Quellen des Austauschs, der Information und Diskussion. Vom ersten Tag an überraschte mich die Gelassenheit dieser Kollegen. Jacques brannte darauf, mich mit Land und Leuten bekannt zu machen und fand trotz hoher Beanspruchung immer wieder Zeit, mir die Schätze romanischer Kirchbauten in der Umgebung zu präsentieren.

Lebt Gott in Frankreich? Schon die mitbrüderliche Begegnung im Pfarrhaus von Melle nahm mir die Sorge darum und ließ mich zuversichtlich in weitere Begegnungen gehen: mit engagierten Ehrenamtlichen, die Verantwortung für kleine örtliche Gemeinschaften und andere Aufgaben übernommen hatten, mit anderen Priestern in der naheliegenden Stadt Nior sowie mit Verantwortlichen für die Pastoral der ganzen Erzdiözese.

Sehr beeindruckend war für mich ein „Tag auf den Wegen des Protestantismus“ in dieser von den Religionskriegen des 17. und 18. Jahrhunderts gebeutelten Gegend. Königliche Dragoner und fanatisierte Katholiken schikanierten hier mit Verrat und brutaler Gewalt die Protestanten, brachten sie auf die Galeeren, in Gefängnisse und um ihr Hab und Gut. Die Übriggebliebenen flohen in die Wälder, feierten dort ihre Gottesdienste, lasen gemeinsam die Bibel und unterrichteten ihreKinder. Das waren die Wurzeln der Hugenotten, die von hier aus in die benachbarten Länder auswanderten. Nicht nur fürBischof Rouet ist es wie ein Wunder, dass gerade in dieser Gegend die Ökumene zwischen Protestanten und Katholiken besonders kraftvoll und fruchtbar lebt.

Mein besonderes Augenmerk dieser drei Wochen galt dem kirchlichen Leben der Gemeinden. Einiges darüber hatte ich schon gelesen. Eine große Pfarrei und mehrere kleine „örtliche Gemeinschaften“ – wie kann das funktionieren? Diese
Frage bewegte nicht nur mich, sondern auch unseren Pfarrgemeinderat St. Petrus, der davon Wind bekommen und mir diese Frage mit auf den Weg gegeben hatte.
Vor 15 Jahren entstanden die ersten dieser kleinen Gemeindeninnerhalb einer Pfarrei bzw. Seelsorgebereichs. Das Neue daran: Einer Equipe von fünf ehrenamtlichen Frauen und Männern wird vom Bischof die Verantwortung für das
christliche Leben in einem überschaubaren Teil der Pfarrei übertragen. Je nach Größe der Pfarrei können in ihr etliche dieser kleinen Gemeinden entstehen. Heute sind diese kleinen Gemeinden fester Bestandteil der meisten Pfarreien des
Bistums. Mehr als 300 gibt es heute davon.

Wie sie funktionieren, wie das Miteinander in der Pfarrei gelingen kann, welche Rolle die Priester und die Pfarrgemeinderäte haben – das und vieles mehr waren meine Fragen. Die Antworten darauf übersteigen bei weitem den Rahmen
dieses Reiseberichts. 

Nach der Reise steht für mich eines fest: Gott lebt in Frankreich! Und bei uns? !

Peter Adolf, Pfarrvikar
Sein Aufenthalt war Teil der „Recreatio“,
einer Auszeit, die Priestern einmal im
Leben vom Bischof gewährt wird.